Stuttgarter Zeitung: Die Schönheit der sieben Hügel

Suttgarter Zeitung, 27.08.2013. Ein Interview mit Johannes Milla

STZ: Herr Milla, alle Welt macht derzeit Urlaub in der Ferne. Weshalb sind Sie nicht weg?
Ich habe schon Urlaub gemacht, in Kroatien und auf der Biennale in Venedig. Ich fahre am liebsten schon im Juni in die Ferien, weil ich Stuttgart im Hochsommer am schönsten finde.

STZ: Was genießen Sie am meisten?
Den Modus der Entschleunigung, der sich breit macht. Es sind gefühlt zwei Drittel weniger Menschen in der Stadt, die hier Verbliebenen sind entspannter und machen Stuttgart zu Stoccarda, der nördlichsten Stadt Italiens. Zudem ist das Gedrängel an meinem Lieblingsbadesee in Kirchentellinsfurt nicht so groß.

STZ: Sie haben in der Vergangenheit öfters betont, Stuttgart sei die schönste Stadt Deutschlands. Sehen Sie das noch immer so?
Ja, die Topografie ist herrlich! Stuttgart ist die Stadt der Höhenkontraste und der Hügel: Rotenberg, Schnarrenberg, Killesberg, Birkenkopf, Bopser, Frauenkopf und – je nach Definition – auch Uhlandshöhe, Karlshöhe und Hasenberg. Unterm Strich lassen Sie es uns „Sieben Hügel“ nennen. Und sie sollten in der Kommunikation nach innen und außen vor allem stadtplanerisch betont werden.

STZ: Ein ehrgeiziger Wunsch! Stuttgart wird in der Öffentlichkeit nicht als Stadt der Hügel, sondern als Stadt im Kessel wahrgenommen.
Griffige negative Begriffe setzen sich gerne fest. Stuttgart aber ist die Stadt mit Weitblick. Stuttgart ist das San Francisco Deutschlands. Die Berge lediglich als Verkehrshindernis in der Stadtplanung zu denken und zu bekämpfen, ist ein fundamentaler Irrtum. Die erste Sünde war vor 25 Jahren, die Straßenbahn auf der Neuen Weinsteige in einen Tunnel zu legen, dann die Schnellstraße vom Schattenring nach Heslach herab. Und so ging es weiter.

STZ: Aber die Tunnels sind doch eine Erleichterung für die Bürger. Sie machen den Verkehr in der Stadt schneller . . .
. . . und rauben dieser Stadt DAS Charakteristikum! Ein hoher Preis, der da gezahlt wird. Und er wird noch um ein Vielfaches höher, wenn Stuttgart vom Jahr 2025 an nur noch ein U-Bahnhof zwischen Filderstadt und Feuerbach sein wird.

STZ: Sie reden von Stuttgart 21.
Wenn man über Stadtwahrnehmung und Stadtidentität redet, kommt man am zukünftigen Höhlenbahnhof nicht vorbei. Die Sieben Hügel und das – jetzt gefährdete – Mineralwasser sind der genetische Kern Stuttgarts. Das haben weder München noch Berlin, weder Hamburg, Köln noch Dresden zu bieten, Städte, mit denen sich Stuttgart bisweilen seufzend vergleicht.

STZ: Wie könnte man die Stuttgarter Reize hervorheben?
Man müsste die Blickrichtungen nach oben und unten betonen, in die Nähe und die Ferne. Leider sind bei Sanierungen der „Stuttgarter Dächer“ Dachgärten verboten. Immerhin scheint die Stadt ihre Stärken langsam zu begreifen, sie richtete Aussichtspunkte wieder her, die Witwenbahn blieb erhalten und die Zacke lebt. Aber man könnte noch mehr tun, um das Hügelige zu akzentuieren. Zum Beispiel Sessellifte bauen, rauf zum Birkenkopf, mit Zwischenstopp am Westbahnhof. Oder vom Planetarium rauf zur Uhlandshöhe mit ihrem Observatorium.

STZ: Wer soll das bezahlen?
Dass sich das nicht sofort rechnet, ist klar. Aber darum geht es nicht. Es geht um neue Verkehrsverbindungen, die für den Fahrgast zunächst praktisch sind und darüber hinaus die vertikale Stadtwahrnehmung ermöglichen. So schrill Sessellifte auch klingen mögen: sie sind nichts anderes als moderne Interpretationen der alten Stuttgarter Stäffele.

STZ: Stärkt das Bauwerk Stuttgart 21, von dem Sie offensichtlich nicht viel halten, wenigstens das Image von Stuttgart als Technologiestandort?
Im Gegenteil. Kürzlich bin ich mit dem ICE- Sprinter nach Berlin gefahren. Bei der Ausfahrt aus dem Frankfurter Bahnhof tat es einen Schlag. Als daraufhin einer der Passagiere spontan rief: „Wie? Sind wir in Stuttgart?“, hat das ganze Abteil gelacht, in der Ersten Klasse, wo sicher keine klassischen S-21-Gegner sitzen. Ganz Europa feixt über den Pannenflughafen in Berlin und die Elbphilharmonie in Hamburg. Nur: diese beiden Projekte sind in zwei, drei Jahren fertig und die Pannen und Mehrkosten vergessen. S 21 wird noch in 21 Jahren den Ruf des Wirtschafts- und Ingenieursstandort Stuttgart gefährden. Aber können wir nicht das Thema wechseln und über Erfreuliches reden?

STZ: Gerne. Ich treffe Sie oft in Stuttgarter Theatern. Wie sieht es nach der Sommerpause in der hiesigen Kultur aus?
Oper: weiter so, großartig. Kleines Haus, denn so – Kleines Haus – sollte es wieder heißen: ich bin sehr neugierig auf Armin Petras und freu mich riesig drauf. Ballett: in drei Jahren geht Reid Anderson in den wohlverdienten Ruhestand. Sasha Waltz will weg aus Berlin, ebenso Daniela Kurz, eine ehemalige Absolventin der John-Cranko-Schule, die zehn Jahre das Nürnberger Ballett hervorragend geleitet hat. Freie Tanzszene: ich freu mich auf das Tanzlokal-Festival vom 6. bis 8. September, das die hiesige Szene mit dem Tanzerbe von Schlemmer, Palucca und Jooss zusammenbringt. Filmgalerie 451: eine private, für den Medienstandort systemrelevante Institution schließt wegen ein paar fehlender Euro im Monat – und gleichzeitig wird ernsthaft über Steuergelder fürs Varieté gesprochen. Damit sind wir beim Theaterhaus: scheint sich programmatisch und immobilienwirtschaftlich immer mehr in Richtung Rolf Deyhle zu entwickeln. Musik: in Trossingen soll jetzt, nach drei Jahren Lebenszeit, der Studiengang Musikdesign geschlossen werden, der erste an einer Deutschen Musikhochschule, bei dem man sich ohne Instrumenten- und Notenkenntnisse, nur mit Laptop und DJ-Mischpult bewerben kann. Eine geniale Idee, fünfzig Jahre nach den nicht notenschreibenden Lennon/McCartney – und völlig grotesk, gerade den zu schließen!

STZ: Sie wollen das Neue Schloss in Stuttgart fürs Publikum öffnen und ein „Neues Bürgerschloss“ daraus machen. Warum?
Das Neue Schloss steht seit mehr als zweihundert Jahren im Herzen der Stadt, erbaut von Steuergeldern und Frondiensten württembergischer Bürger und Bauern. Mittlerweile haben wir zwar keine Monarchie mehr, aber die Obrigkeit sitzt in Gestalt von Finanz- und Wirtschaftsbeamten noch immer im Schloss und lässt die Menschen nicht rein – ein anachronistisches Symbol für Bürgerferne! Deshalb haben wir bei Milla & Partner ein Konzept entwickelt, das Teile des Schlosses der Öffentlichkeit zugänglich macht und mit Inhalten bespielt: mit einem Politiklabor für Schulklassen, einem Ehrensaal für Helden des Alltags, einer Motz- und Schimpfecke, einem Schlosskindergarten, einem Schlosscafé. Das Neue Bürgerschloss soll zu einem Ort der Identifikation, der Selbstvergewisserung werden. Ein Ort der politischen Bildung und der Partizipation, besonders für junge Baden-Württemberger.

STZ: Sind sie mit der Realisierung Ihres Projekts schon vorangekommen?
Einerseits nein, weil von der interministeriellen Arbeitsgruppe, die sich seit Monaten damit befasst, bisher kein Ergebnis vorliegt. Andererseits ja, weil ich von mehr als 120 Menschen aus allen gesellschaftlichen Lagern Zuspruch bekommen habe und sich der Diskurs längst vom Initiator losgelöst hat und in vielen Köpfen ein Eigenleben führt. Das Neue Bürgerschloss ist in den unterschiedlichsten Kreisen ständig im Gespräch – und die sogar an Wochenenden im Ehrenhof parkenden Ford Fiestas der Beamtenschaft sind ein permanentes Privilegien-Menetekel! Ich habe weiter Hoffnung. Grün-Rot hat sich schließlich die Bürgerbeteiligung auf die Fahnen geschrieben. Wer will an Wahlversprechen zweifeln? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

STZ: Der Wille fehlt?
Man könnte das Bürgerschloss stufenweise umsetzen: Kein einziger Beamter wäre bei der Konzentration gestört, wenn man den Zugang vom linken Schlossflügel zum Schlossgarten öffnen würde. Physisch existiert diese Pforte schon, aber sie ist so gestaltet, dass sie niemand erkennt und nutzt. Diesen Zugang offensiv anbieten, einen Durchgang durch den Planieflügel und den Mittelbau schaffen, dann die Autos aus dem Ehrenhof verbannen, dort noch ein Café etablieren und im Mittelbau ein Politiklabor für Schulklassen, auf Rollen, wenn der Platz für Empfänge benötigt wird – das wäre ein solider Anfang des Projekts, der vergleichsweise einfach zu machen wäre. Als in Paris das Finanzministerium vor zwanzig Jahren aus dem Nordflügel des Louvre auszog, hat die Stadt dank des zusätzlichen Raums einen enormen Aufschwung genommen. Ähnlich wäre es auch beim Neuen Schloss. Was glauben Sie, wie das Publikum strömen würde!

STZ: Sie werben nun schon seit fast zwei Jahren für Ihre Schlosspläne. Werden Sie den Politikern in Stadt und Land damit nicht lästig?
Nein, wozu, meine Kollegen und ich haben genug spannende Projekte und Themen. Aber es stimmt, dass wir das Bürgerschloss gerne verwirklicht sehen würden. Unsere Agentur beschäftigt sich nun mal national und international mit der Darstellung von Themen und Unternehmens-Identitäten, auch Stadtidentitäten. Und wenn wir sehen, wie das Neue Schloss – außer für Landesempfänge - nur noch als Foto- und Eventkulisse und als gebührenfreier Parkplatz benutzt wird und ansonsten verschlossen schweigt, werden wir bei unserem Bürgersinn und Berufsehre gepackt: Wir wollen eben nicht nur Steuern zahlen, sondern diesem Kreativ- und Wirtschaftsstandort etwas zurückgeben.

STZ: Vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt gibt es den Satz: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“
Ein vielzitierter, knorriger Spruch, ein Rauchzeichen vom weisen Alten der deutschen Politik. Aber das Neue Bürgerschloss ist keine Vision, es ist eine pragmatische, überfällige Notwendigkeit.

Das Gespräch führte Roland Müller.

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