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Archive: Potenziale für die Stadtgesellschaft

Das Archiv: ein Ort der urbanen und sozialen Identität

Stadt- und Landesarchive stehen zu Unrecht außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Klar, dass sich 99% der Menschen nicht für Akten von Verwaltungsvorgängen interessieren – aber in Archiven steckt weit mehr als das: Fotos, Planungen, Vereinbarungen, Handschriften, Video- und Tonaufnahmen. Hier kann man herausfinden, warum die Dinge so waren oder geworden sind, wie sie sind.

Archive sind ein kollektives Gedächtnis. Objekte und Dokumente machen hier Vergangenes und deren Relevanz für die Gegenwart sichtbar. Sie machen das Handeln der Institutionen überprüfbar. Sie sind nicht nur Forschungsorte für speziell Interessierte, sondern, wenn sie richtig gestaltet sind, auch Lernorte: Warum und wann und von wem ist die Stadt, sind die Lebensumstände, sind die Regeln geschaffen worden oder die Ereignisse geschehen, die sich auf mein Leben jetzt auswirken? Es wird eine immer stärker werdende Fragmentierung der Gesellschaft deutlich: Gruppen entwickeln durch Abgrenzung nach außen hin ihre eigene Identität. Um dem entgegenzuwirken, geht es immer mehr darum, das Gemeinsame, das Verbindende einer Gesellschaft zu finden. Dies kann gelingen, sofern sich jeder einzelne Mensch angesprochen und persönlich wertgeschätzt fühlt. Stadtarchive – oder Archive mitten in der Stadt – können Ermöglicher einer solchen bürgerschaftlichen Partizipation werden. Zudem zeigen Archive, dass es nicht nur um die Dokumentation und retrospektive Kontrolle von Verwaltungstätigkeit geht, sondern um das Handeln und die Bedeutung aller Bürger_innen. Archive können daher viel zur Wertschätzung in einer Gesellschaft beitragen, denn sie zeigen durch ihren Bestand: Jeder ist Bestandteil dieser Gesellschaft.

Die Herausforderung

Ein Archiv versteht sich als Stütze, als Gedächtnis, als Wissensspeicher, als Lernort der Menschen und muss als solches erkennbar sein. Dafür benötigt es neue Formate - und das haben viele Archive bereits erkannt: Es geht um eine Haltung und ein ganz anderes Denken bei der Konzeption. Konkret bedeutet es, einen Treffpunkt, einen Denk-Ort, einen Kommunikations-Ort, zu schaffen, der für alle Bürgerinnen und Bürger offen ist. Er sollte als Dritter Ort, als Begegnungs-, Lern-, Versammlungs- und Veranstaltungsort ausgebaut werden und vielfältige Aktivitäten, auch außerhalb seiner eigentlichen Funktion, zulassen. Dafür ist es notwendig, eine urbane Identität zu schaffen und so einen Knotenpunkt für kulturelle und soziale Netzwerke zu etablieren. Diese Ausweitung der Nutzungsmöglichkeiten ist für ein Archiv eine herausfordernde Aufgabe, auch personell. Doch es geht darum, die Gesellschaft, das Miteinander-Leben noch weiter zu verzahnen und somit zu stärken.

Neue Nutzungsmöglichkeiten – neue Zielgruppen

Damit können auch neue Zielgruppen erschlossen werden – neuen Gruppen wird die Möglichkeit der Partizipation gegeben. Kommen bisher vor allem Wissenschaftler_innen und Hobbyforschende, geschichts- und landeskundeinteressierte Bürger_innen ins Archiv, kann zukünftig eine diverse Besucherschaft aus jungen und alten Menschen, Laien und Experten sowie Menschen aus allen ethnischen Gruppen und Bevölkerungsschichten angezogen werden. Das benötigt neue Nutzungen: Neben seiner Funktion als Sammlungsort und dem Ausbau zu einem Begegnungsort müssen Räume geschaffen werden, in denen sich Besuchende vor Ort Fähigkeiten aneignen können, selbst mit historischem Material umzugehen. Insbesondere für die Menschen, die digitale Kanäle und Werkzeuge intensiv nutzen, sollte die vorhandene technische Infrastruktur einen Mehrwert bieten: Was kann ich als Bürger dort selber nutzen und kann ich dort mal etwas ausprobieren, beispielweise digitale Archive? Kann ich mich da andocken? Kann ich da was mitnutzen?

Die Kernbotschaft eines solchen Ortes sollte sein, dass jeder in der Gesellschaft wichtig ist. Jeder soll aufgefordert sein, im Stadtarchiv eine persönliche Spur zu hinterlassen.

Du bist archivwürdig!

„Auf dich kommt es an, du bist wichtig“. Diese Haltung zeigt Wertschätzung für die Besuchenden und Partizipierenden. Fast alle Menschen tragen bereits ein digitales Archiv mit sich herum, nämlich das Smartphone. Eine Möglichkeit, diesen immensen Speicher zu nutzen und gleichzeitig die Gesellschaft mit einzubeziehen, sind vor Ort stattfindende Angebote: Die Sichtung, und möglicherweise anschließende Aufnahme des Materials in ein Archiv, führt zu einer direkten Partizipation der Besuchenden. In einem Archiv kann sich die Möglichkeit bieten, als Person aktiv angesprochen zu werden, aktiv zu werden, die eigene Geschichte einzubringen und damit Teil der Geschichte zu werden.

Die Zukunft des Lernens zwischen analog und digital

Die Schnittstelle zwischen analog und digital muss auch an diesem Ort möglich gemacht werden. So können zum Beispiel Original-Tonbandaufnahmen zeitgeschichtlicher Ereignisse als Case herausgesucht werden. Denn nicht nur die Menschen, die diese Zeit erlebt haben, sondern auch nachfolgende Generationen spüren noch die Schwingungen, die von diesen Aufnahmen ausgehen. Als Forschungsstation in Form von Mixed Reality aufgearbeitet, bei dem das Original oder ein Replikat mit digitalen Informationen interaktiv verbunden wird, kann viele Interessierte anziehen.

„Je digitaler die Welt, desto mehr braucht es die realen Begegnungen. Es braucht aber ebenso Haptik und Sinnlichkeit, die Besuchende erleben können. Und dazu werden Archive in Zukunft hoffentlich einiges beitragen können.”

Johannes Milla, Kreativdirektor und CEO Milla & Partner

Culture Hub & digitales Archivlab

Wichtig ist auch, dass ein Archiv nicht „nur“ ein Archiv ist. Ein Archiv kann ein Knotenpunkt sein – ein Hub – für weitere lokale Einrichtungen. Die Verbindung zu einem Archiv kann neue Synergien zwischen Institutionen und so einen Netzwerk-Ort schaffen. In einem digitalen Archivlab wäre es ebenso möglich, sich als Nutzer_in und Besucher_in selbst einzubringen und sich auf kollaboratives Arbeiten einzulassen.

Ein virtuelles und immersives Archiv

Das Thema Visualisierung von Daten ist ein großartiges Thema – und die damit einhergehende Verknüpfung von Informationsweitergabe mit dem persönlichen Erleben und Erspüren dieser. Intelligente Games werden inzwischen von 65 % der Bevölkerung genutzt. Daraus immersive Räume zu entwickeln, die dann in einem Archiv sicht- und erlebbar werden, kann hoch attraktiv sein. Auch können die Besucher_innen möglicherweise eigene Daten, Bilder oder Gedanken einbringen, dadurch den Raum verändern und Teil des Ganzen werden.


Die Gesellschaft und das Archiv können durch die vorgestellten inhaltlichen und gestalterischen Maßnahmen miteinander in eine enge Wechselwirkung geraten.

Eine neue Aufenthaltsqualität, niedrigschwellige Angebote sowie ein digitales und analoges Besucherzentrum transformieren die Einrichtung zu einem Ort der Begegnung und des Wissens für alle. Dabei ist es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Archiv erobern und vor allem partizipativ als Bürger-Wissenschaftler an der Geschichtsschreibung des Landes mitwirken. Und dabei spüren, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind und Wertschätzung erfahren.

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