Stuttgarter Zeitung, 14.04.2011: In der Waagschale der Demokratie

Der Kulturausschuss des Bundestages hat entschieden: Nach Plänen der Stuttgarter Agentur Milla & Partner sowie der Choreografin Sasha Waltz soll mitten in Berlin ein Nationaldenkmal höchst eigener Art entstehen.

Das Einheitsdenkmal für Berlin kommt aus Stuttgart: Gestern Abend hat der Kulturausschuss des Deutschen Bundestages den Vorschlag des Kulturstaatsministers Bernd Neumann (CDU) gebilligt, mitten in der Hauptstadt am Rande des Schlossplatzes den Entwurf „Bürger in Bewegung” der Agentur Milla & Partner und der Choreografin Sasha Waltz zu realisieren. Nach über dreijähriger Debatte mit zum Teil durchaus burleskem, weil nicht immer zielfühendem Verlauf ist damit der künstlerische Wettbewerb um dieses Bauprojekt von staatstragendem Rang zum Abschluss gekommen. Es soll an die Bürgerrevolution in der DDR im Herbst 1989 und an die Vereinigung am 3. Oktober 1990 erinnern. Laut Experten ist ein Baubeginn jederzeit möglich; über die nötige Bauzeit herrscht Unklarheit.

„Uns kam es darauf an, ein Denkmal zu schaffen, das die Menschen nicht nur betrachten oder fotografieren, sondern bei dem sie aktiv und selbst zum Teil des Denkmals werden.” So erläuterte der Kommunikationsexperte Johannes Milla gegenüber der Stuttgarter Zeitung seinen Ansatz. Deswegen lebt die etwa 50 Meter lange, an beiden Seiten himmelwärts gebogene Metallschale des Entwurfs auch nicht nur von der Dynamik ihres Anblicks, sondern vor allem von der Bewegung ihrer Besucher: Das Denkmal ist begeh- und veränderbar. Je nachdem, ob und wie seine Gäste miteinander kommunizieren und ihren Standort wählen, wird sich die Schale hier heben und dort senken. So sollen die beiden Schlüsselsätze der friedlichen Revolution von 1989/90 lebendig werden, die in der Schale mittels Großbuchstaben zu lesen sind: „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk.”

In der Ausschussdebatte äußerten Vertreter der Grünen und der Linken nochmals grundsätzliche Bedenken - weniger gegen den Entwurf von Milla und Waltz, der sich in einer letzten Wettbewerbsrunde gegen Konzepte des Münchner Architekten Andreas Meck und des Bildhauers Stephan Balkenhol durchgesetzt hatte, sondern gegen das Verfahren. Während sich die Grünen zunächst noch einen längeren „gesellschaftlichen Diskurs” über das Denkmal wünschten, bevor endgültig entschieden wird, zweifelten die Linken grundsätzlich an, ob man „Freiheit” und „Einheit” so forsch miteinander verknüpfen dürfe. Beide Positionen blieben aber gestern in der Minderheit.

Immerhin sind so die beiden verschiedenen Ebenen skizziert, auf denen das Bauprojekt zu diskutieren ist. Die erste Frage lautet: Brauchen wir überhaupt ein Freiheits- und Einheitsdenkmal? Und sofern man diese Frage positiv entschieden hat, folgt Frage Nummer zwo: Braucht man speziell dieses Freiheits- und Einheitsdenkmal von Johannes Milla und Sasha Waltz?

Was das Grundsätzliche angeht, kann man auch weiterhin geteilter Meinung sein. Die Geschichte großer Nationalmonumente beginnt weit zurückliegend im neunzehnten Jahrhundert und endet nicht ohne Grund im zwanzigsten Jahrhundert mit all seinen Schrecken. Letzteres tut sie nicht nur, weil der Nationalstaat in Europa angesichts internationaler Bündnisse seine Deutungsmacht verliert, sondern vor allem, weil es im Grunde keine überzeugende Bilder- und Symbolsprache mehr für den Staat oder das Nationalvolk gibt.

Das macht im Übrigen sehr schön das Vorgängermonument auf dem Schlossplatz deutlich, das 1950 die DDR-Macht abtragen ließ: Als die Reichsregierung 1891 nach einem schlüssigen Symbol für ein Nationaldenkmal des Deutschen Reiches suchte, da war klar, das nur ein Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I., also des offiziellen Reichsvereinigers von 1871, in Frage käme. Doch was kann 120 Jahre später im demokratischen Deutschland den Protest und die Revolution mutiger DDR-Bürger symbolisieren, wenn man nicht auf Flammen, Fahnen oder heroische Schriftzüge zurückgreifen will? Es hätte guten Grund gegeben, aus dieser ästhetischen Not heraus auf ein Nationaldenkmal in Berlin lieber zu verzichten - aber nun gut, der Deutsche Bundestag hat am 9. November 2007 anders entschieden, unter anderem auf Initiative früherer DDR-Bürgerrechtler hin.

Wenn man dieses Votum als gegeben nimmt, dann allerdings ist die Grundidee von Johannes Milla und Sasha Waltz bestechend. Sie haben sich entschlossen, ein Kunstwerk zu schaffen, das erst durch das Mittun der Passanten den Rang eines Denkmals erlangt. Im Laufe des Wettbewerbs gab es Bedenken, ob sich das Konzept einer begehbaren beweglichen Metallschale technisch realisieren lässt und den Kostenrahmen von 10 Millionen Euro einhält. Dies scheint von Experten bestätigt.

Wenn das Projekt „Bürger in Bewegung” gelingt, fügt es sich letztlich in der staatskunstpolitischen Dramaturgie der deutschen Hauptstadt ein neben dem rekonstruierten Reichstagsgebäude und dem Holocaust-Mahnmal. So wie das Schönste am Deutschen Bundestag ja zweifellos ist - baulich betrachtet -, dass die Bürger hoch über ihm in der gläsernen Reichstagskuppel von Norman Foster hinauf- und herunterspazieren können, so wird auch das knapp 20 000 Quadratmeter große Stelenfeld von Peter Eisenman zur Erinnerung an die Judenvernichtung in all seiner Monumentalität nur dadurch erträglich, dass es Tag für Tag von einer internationalen Flaneursgemeinde ganz unverkrampft mit urbanem Leben erfüllt wird.

Kunst bringt Bewegung, Bewegung bringt Nachdenken. Ob das auch beim Freiheits- und Einheitsdenkmal am Schlossplatz gelingen wird? Johannes Milla und Sasha Waltz haben dafür das Ihrige getan.

Von Tim Schleider

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